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Kopfüber

Es gibt Menschen, die einen Sturz aus 150 Metern Höhe überleben. Alcides Moreno ist einer von ihnen. Er fiel am 7. Dezember 2007 aus dem 47. Stock eines New Yorker Hochhauses. Der Fall des Fensterputzers, dessen Gerüst unter ihm zusammenbrach, ging damals als Wunder durch die Medien.


Dieser Sturz hat mich lange beschäftigt. Besonders im April 2009. Ein Wunder, ich brauchte jetzt auch ein Wunder. Die Diagnose Blutkrebs schubste mich dem 47. Stockwerk meines Lebens. Ich fiel aus meiner Welt. Kopfüber im freien Fall verlor ich die Orientierung. Es war als würde man mich an den Beinen nach oben ziehen und alle Gedanken und Gefühle, die darin fein säuberlich verstaut waren, herausschütteln.


Mein Flug nach San Francisco war gebucht. In der Agentur standen die wichtigsten Projekte kurz vor Abschluss. Eine Sekunde lang dachte ich über die Ironie des Wortes „Deadline“ nach.


Ich saß am Bettrand meines neuen fremden Lebens. In einem 12 Quadratmeter großen Patientenzimmer. „Das ist keine Station, auf der gestorben wird“ redete meine Zimmergenossin auf mich ein. Mein Schluchzen war nicht mehr zu unterdrücken. Frau S. kroch aus ihrem Bett und schlurfte zu mir herüber. Sie streichelte mir über den Kopf. Vielleicht wollte sie einfach nochmals spüren, wie sich das anfühlt, mit den Fingern durch lange, seidige Haare zu fahren. Frau S. besaß selbst keine mehr. Sie versuchte mich von den praktischen Aspekten zu überzeugen, z.B. dass wir jetzt kein Shampoo mehr kaufen müssen.


Da passierte es. Wir mussten lachen. Wie lachten aus Verzweiflung. Wir lachten über diesen Irrwitz. Über den Krebs. Über dieses Paralleluniversum in der Klinik. Über das Wort Krankenhaus, das schon beim Aussprechen krank macht. Wir lachten über uns. Wir lachten so laut, bis der Pfleger kam. Dann die Psychologin, dann der Pfarrer und schließlich der Arzt.


In diesem Moment beschlossen wir, unseres eigene private Klinik für Humorbiologie aufzubauen. Jeden Tag tüftelten wir an kleinen Geschichten und Witzen. Aus der Klinik machten wir ein Wellness-Resort. Das Pflegepersonal begrüßten wir beim Infusionswechsel mit „Ach schön, jetzt bringen Sie schon vormittags die Cocktails.“ Und „Was für ein Service, hier gibt’s Gin Tonic intravenös.“


Langsam wandelte sich mein Selbstbild vom Alien zum Anarcho. Das war Punk vom Feinsten. Wir fielen kopfüber und spürten zunehmend das befreiende Moment unserer Kopflosigkeit. Der Verstand, der alte Kontrolleur, wurde immer schwächer. Unsere Konzentrationsfähigkeit ließ nach, wir konnten Dinge nicht mehr richtig benennen und Namen nicht mehr erinnern. Chemobrain nennt man das. Die Notreserven in unserem Gehirn reichten gerade noch aus, uns mit Blödsinn zu versorgen. Wir waren albern, ironisch, sarkastisch. Das Wort „Galgenhumor“ fiel oft. Ich konnte den Kopf noch einmal aus der Schlinge ziehen. Glücklicherweise habe ich in England nicht nur labbriges Weißbrot und Linksverkehr kennengelernt, sondern auch einen extravaganten, bitterbösen Black Humor. Bitterböse wie Blutkrebs. Ich verordnete mir täglich eine überlebensnotwendige Dosis davon. Similia similibus curentur!


Der Titel und das Motiv "Kopfüber" geht zurück auf das Buch Kopfüber. Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts von Prof.Dr.Jörg Traeger (1942-2005), meinem Kunstgeschichte-Professor und Mentor. (Dieses Bild - sowie sämtliche Bilder meines Blogs - habe ich selbst fotografiert und bearbeitet.)



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