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Auferstehung


Heute vor elf Jahren saß ich in einem Krankenhausbett und weinte bitterlich. Ich hatte regelrecht einen Nervenzusammenbruch. Meine Venen waren schon nach einem Tag Klinikaufenthalt von den pausenlosen Blutabnahmen zerstochen. Am Gründonnerstag der Verdacht, am Karfreitag die Diagnose: AML. A M WAS? "Sie haben eine sehr aggressive Form akuter myeloischer Leukämie." Leukämie! Das verstand ich. Bilder von Spendenaufrufen und Fernsehgalas schossen mir durch den Kopf. Über die habe ich mich immer so aufgeregt. Schlager mit Schmerz. Ich wusste nicht, was ich abscheulicher fand: Die musikalischen Darbietungen oder das vorgeführte Elend. Kahl und bleich sahen die Menschen aus, die die Zuschauer baten, die Krebsforschung zu unterstützen. Waren das wirklich Menschen oder Aliens? Manchmal konnte ich nicht erkennen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt. Hohe Cortisongaben malen glühende Mondgesichter.


Eine Crew von Ärzten, Medizinstudenten und Pflegern belagerten mich. Draußen verbreitete eine schamlos gut gelaunte Sonne Eisdielen-Stimmung. Der Frühling zwitscherte aus jedem Strauch. Ich konnte das nicht mehr hören, aber ich wusste es. Ich lag mittlerweile mit 39,9 Grad Fieber auf der 4d. Die 4d ist eine keimfreie Isolierstation. Die Fenster sind verriegelt. Hier kommt nichts rein und keiner raus. Kein Vogelzwitschern, kein Blütenhauch. Selbst in der Luft, lernte ich, können tödliche Keime lauern für Menschen ohne Immunsystem. So einer sollte ich jetzt sein? So ein mondgesichtiger Eierkopf? Das war ganz und gar unmöglich. Eben war ich noch Kreativdirektorin im Osterurlaub, jetzt Krebspatientin in der Hölle.


Ostern hat in meiner Familie eine starke Tradition. Meine Schwestern wurden in der Osternacht getauft und nach dem Tod meiner ältesten Schwester war das Leiden Christi auch ihr Leiden. Und unseres. Auch wenn ich mich lange schon von der Kirche distanziert hatte, in diesem Fest steckte immer noch alles, was mich und meine Familie bewegte und verband: Tod und Leben. Abschied und Wiedersehen. Trauer und Freude. Ostern bringt Verzicht, Abschied, Dunkelheit, Sterben. Ostern ist Feuer, Schlafen, Warten, Aufwachen, Sonne, Licht, Lachen. Ostern ist der neue Morgen mit den ersten Sonnenstrahlen im Gesicht und zwitschernd-blühender Frühlingsluft in der Nase. Ostern ist das neue Leben.

Wie sollte ich denn ausgerechnet jetzt so eine wunderschöne Welt verlassen? Meine Überlebenschance würden bei etwa 15% liegen. Ich lehnte ab. Der Professor blickte mich besorgt an. Der Assistenzarzt flüsterte mir zu: "Wir schaffen das trotzdem, wenn Sie wollen." Und wie ich das wollte! Ich wollte zwar auch eine Zigarette rauchen so groß wie ein Haus und dazu ein G&T Bad nehmen, um mich zu beruhigen.. Stattdessen gab es Infusionen, Chemo-Cocktails und so manche Pille, um die mich jeder Berliner Berghain-Hipster beneidet hätte.

Ich hatte noch nie Spaß mit Drogen. Allein die Vorstellung von Kontrollverlust, trieb mir Angstschweiß auf die Stirn. Immer schön klar im Kopf bleiben, Zügel fest in der Hand. Das Leben steckt voller Ironie: Denn jetzt sollte ich ein Pferd ohne Beine reiten. Meine Zeit lief ab. Ich musste mir etwas einfallen lassen. "Die Psyche trägt entscheidend zur Heilungsschance bei" beschwor mich ein Psycho-Onkologie. Ich musste meinem Pferd Flügel wachsen lassen. Wir hoben ab, wir stürzten, wir flogen wieder.


Elf Jahre später sitze ich hier auf meinem Berliner Balkon. Die Krise heißt jetzt Corona. Ich darf nicht rausgehen, sollte Menschen meiden. Aber ich bin nicht mehr die Ausnahme. Alle sollen zuhause bleiben. Laufend höre ich jemand jammern, wir seien doch jetzt alle schrecklich in unseren Grundrechten beschnitten. Einige Freiheitsberaubten proklamieren sogar "Das Ende der Demokratie".


Ich schließe die Augen und atme tief ein: Vogelgezwitscher, Kaffeeduft und Zigarettenrauch vom Nachbarbalkon, Sonnenstrahlen, Kindergeschrei. Ich bin gestorben und ich bin wieder auferstanden. Ich bin frei, weil ich gesund bin. Ich bin frei, weil ich mir gut Gesellschaft leisten kann. Weil ich dieses Leben liebe und die Menschen, die mir darin begegnet sind. Ich sehe sie alle. Ich sehe dich. So oft ich will. Auch, wenn ich die Augen öffne. In Wahrheit träumen wir schöner, wenn wir wach sind. Frohe, freie Ostern!

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