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Trotzdem

Sonne im Exil Goldgelb leuchten sollten sie meine neuen Vorhänge. Wenn ich schon in dieser Wohnung gefangen war, dann wollte ich wenigstens residieren wie eine Sonnenkönigin. Auch wenn meine Sonne noch im Exil lebte, ihre Kraft war schon spürbar und bahnte sich unaufhaltsam einen Weg durch meinen tristen Alltag.


Hundert Tage Obwohl die ersten hundert Tage nach Stammzellentransplantation überstanden waren, hatten mir die Ärzte noch kein grünes Licht gegeben. Weiterhin sollte jedes Ansteckungsrisiko peinlichst vermieden werden: am besten kein Kontakt zu niemand.

Ausflüge in die Natur waren ebenso tabu: Selbst die Keime in der Luft hatten noch genügend Schmackes eine frisch Transplantierte in Gemüse zu verwandeln. Mein Immunsystem war erst frisch geschlüpft und so wandelte ich wie ein rohes Ei durch die Gegend. Na gut, Gegend ist vielleicht auch etwas übertrieben, wenn ich von meiner Wohnung spreche. Immerhin hatten meine 63 Quadratmeter, verglichen mit den Klinik-Wohnklos, Freigehege-Feeling.


Goldgelb statt popelgrün

Meine unfreiwillige Tagesfreizeit, die ich abwechselnd mit Medikamenteneinnahmen und spontanen Essensentlehrungsorgien verbrachte, hatte das Zeug dazu, selbst militärisch gedrillte Sondereinsatzkommandos in Heulsusen zu verwandeln. Ich war auf unbestimmte Zeit in diesem Antreten-zum-Verrecken-Bootcamp und musste mir eine gute Survival-Strategie zulegen. So setzte ich mir in meinen, mit Babyflaum bedeckten Kopf, dieses Keimfrei-Gefängnis in einen strahlenden Palast zu verwandeln. Ich wollte Farbe, ich wollte Licht und - ja, ich wollte Glamour! Wer monatelang in Zimmern mit popelgrün und eitergelb gestrichenen Wänden verbringt, kennt dieses Bedürfnis. An dieser Stelle möchte ich auch einmal sagen, dass Innenarchitekten, die für die Wand- und Vorhangfarben in Krankenhäusern verantwortlich sind, genauso hart bestraft werden sollten, wie die Designer von Sitzbezügen in öffentlichen Verkehrsmitteln.


Freiheit, ich komme!

Es kam also, wie es kommen musste. Mir fiel die Decke auf den Kopf, mir platzte der Pyjama-Kragen, ich hatte die Fakten dicke. Kurzum: Ich setzte mich in kompletter Keimfrei-Montur mit Mundschutz, Schal und Maxi-Sonnenbrille ins Auto und stieg zitternd aufs Gaspedal. Entgegen der Empfehlungen meiner Onkologen und sehr offensichtlich gegen das bayerische Vermummungsgebot verstoßend, brach ich auf ins neue Leben. Ich musste meine erste Fahrt Richtung Freiheit allerdings schon nach zwei Kilometern unterbrechen, weil mir ständig die Gläser beschlugen. Ich schwitzte, als würde ich den Wagen mit Füßen antreiben. Durchhalten, Seifenkistenkapitän!, ermunterte ich mich und steuerte unaufhaltsam mit Tempo 30 und der ein oder anderen Schlangenlinie meinem Ziel entgegen.


Ich brauche dringend neuen Stoff

Es war dieser kleine Stoffladen in dieser alten Scheune. Mitten in der Pampa. Montag-Vormittag um halb elf. Die Gefahr, hier Massen von einkaufswütenden Menschen zu begegnen, konnte als als relativ gering eingeschätzt werden.. Beim Betreten des Stoffladens erfasste mich eine Welle der Euphorie. Es war, als würde ich zum allerersten Mal in meinem Leben einen Laden betreten. Ein Gefühl wie Überraschungsparty, Zum-ersten-Mal-verliebt-Sein und Lotteriegewinn. Ich tapste umher wie Alice im Wunderland. Die Schönheit der ausgestellten Textilien rührte mich zu Tränen. Ich fühlte die unterschiedliche Haptik der schweren Brokate und zarten Seide. Als ich mehrere Minuten lang einen dunkelblauen Samt streichelte, sprach mich die Ladenbesitzerin an, ob sie mir irgendwie helfen könnte. Ich glaube kaum, dass Sie mir helfen können hörte ich mich sagen und wollte aus Scham ob meiner patzigen Reaktion im Boden versinken.


Keine guten Karten?

Tatsache war, dass die Laden-Location in einer alten Bauernhof-Scheune diametral im Gegensatz zu dem hochpreisigen Sortiment ihrer edlen Waren stand. Das hatte ich nicht bedacht. Ich konnte es mir einfach nicht leisten. Die selbsternannte Sonnenkönigin schlurfte Richtung Ausgang, Entschuldigung, Sie haben etwas vergessen! Nein, danke, ich hatte nichts vergessen, ich habe ja nichts gekauft, erwiderte ich. Doch, doch, das gehört Ihnen. Das müssen Sie mitnehmen. Sie brauchen das. Eine Dame mit Chemo-Löckchen-Frisur - wie ich später erfuhr war es die ebenfalls an Krebs erkrankte Ladenbesitzerin, reichte mir lächelnd ein kleines Papiertütchen. Ok, whatever, vielleicht war's ja ein Stoffmuster. Ich bedankte mich, packte das Geschenk ein und trat meine Heimreise an.


Trotzdem

Erschöpft ließ ich mich zuhause ins Sofa plumpsen. Dann kramte ich in meiner Handtasche nach dem salbungsvoll überreichten Papiertütchen. Herauskam eine illustrierte Postkarte: Eine elfengleiche Frau, die einen kunstvoll gewickelten Turban trug, neigte lächelnd ihr Haupt. Darunter die Worte Trust yourself.

Bäm! Das ging mitten rein. Heiße Tränen liefen mir über die Wangen. Ich dachte an ein Gespräch mit meinem Onkologen: „Bei so zarten kleinen Frau wie Ihnen stehen die Überlebenschancen einer derart aggressiven Leukämie nicht sehr gut. Wie Sie das immer wieder anstellen, weiß ich nicht“. Ich wusste es selbst nicht. Erst beim Anblick dieser Postkarte wurde es mir klar: Trust yourself! flüsterte mir die kleine, zarte Frau mit dem großen Turban zu. Die Prognose sprechen dagegen? Tu’s trotzdem! Trau dich, dir selbst zu vertrauen!

Als die Ampel auf rot schaltete, ging die Sonne trotzdem auf.

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