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Relight my Fire

Einen Tag vor meiner Stammzellentransplantation stürzte ich beim Versuch, selbstständig vom Bett zur Toilette zu gelangen. Ich musste so dringend. Ich musste wirklich extrem dringend. Und dann musste ich mal eben von der Bühne abtreten. Blackout. Mein medikamentenbenebeltes Bewusstsein verschwand hinter einem schwarzen Samtvorhang. Allerdings nicht ohne den schwer behangenen Infusionsständer, der mit mir verkabelt war, in die Tiefe zu reißen. Er wog durch die Überwachungsmonitore bereits mehrere Kilo und schlug deshalb nicht nur hart auf den Kacheln auf, sondern auch auf meinem linken Fuß. Dort zertrümmerte er nach allen Regeln der Kunst mein Sprunggelenk und verteilte außen herum hübsch die ätzende Chemiesoße. Und ich dachte ein paar Minuten vorher noch: Hier liege ich wieder in der Klinik nach all den Monaten voller Krämpfe und Kämpfe, Kotzorgien und Not-OP, Schmerzen und Schlaflosigkeit, Isolation und Depression. Nein, tiefer kannst du nicht mehr fallen. Das geht nicht. Überraschung: Es geht. Und wenn es nur ein halber Meter ist.

Abgefackelt

Auf Station war ich der Knaller und erlangte durch die kreative Ansammlung unerwarteter Schwierigkeiten bald Berühmtheit unter den Medizinstudenten des Universitätsklinikums. Wie es den Herren und Damen der KMT - nicht zu verwechseln mit „KTM“, der österreichischen Motorradkultmarke – gelang meinen Körper so zurechtzubasteln, dass sich darin ein komplett neues Immunsystem ansiedeln konnte, weiß Gott allein. Meine Aufgabe nach vollzogener Knochenmarktransplantation bestand jedenfalls darin, wieder auf die Beine zu kommen. Das war ich allein schon den Nachtschichten meiner PflegerInnen schuldig, die sicher auch lieber auf der WG-Party Spaß gehabt hätten. Initialzündung

Nach vielen gemeinsamen Stunden mit meiner äußerst geduldigen Physiotherapeutin und Schwester unternahm ich den ersten Versuch, mich im aufrechten Gang fortzubewegen. Ich vollzog nochmals die komplette Evolution der Menschheit von zappelnder Zellhaufen über kriechender Lurch und Monkey Mind bis Homo Sapiens auf zwei Beinen. Mein Ausflug durch die Fußgängerzone gestaltete sich entsprechend abenteuerlich. Durch die wochenlange Bettlägrigkeit war nicht nur mein Gehirn Matsch, sondern auch meine Muskulatur. So sollte ich nun also meinen, medikamentös aufgeblasenen Michelin-Körper nebst Gipsbein auf Krücken durch die Gegend ziehen. Oder war das ein ausrangiertes Frachtschiff? Ich hatte kein Gefühl mehr für das, was ich auf zwei Stöcken zu balancieren versuchte.

Glimmstengel Es ging, wie soll ich es sagen, langsam voran. Konnte ja auch nicht wissen, dass jetzt ein Meter jetzt hundert Meilen lang ist. Trotzdem: Ich wollte Birgit nicht enttäuschen. Sie hatte sich so bemüht, mir Mut zu machen. Die Fußgängerzone der Kleinstadt, in der ich lebte, erschien mir wie eine Marathonstrecke. Sie ist exakt 857 Meter lang und in aller Regel binnen 5 Minuten durchschritten. Ich bewegte mich aber derart schleppend vorwärts, dass ich selbst Birgits langsamste Gangart unterschritt. Meine Schwester überbrückte die Wartezeiten mit Zigarettenpausen und hatte schnell eine halbe Schachtel durch. Beobachter dieses bizarren Schauspiels hätten durchaus vermuten können, eine Frau versuchte mittels Zigarettenqualm die Vereisung am Kopfsteinpflaster zum Schmelzen zu bringen. Feuer und Flamingo

Ich schwitze. Das Feuer war entfacht. Unter meiner Mützen-Schal-Perücken-Mundschutz-Vermummung entstand ein subtropischer Mikrokosmos, in dem Flamingos brüten hätten können. Je heftiger ich dampfte, desto mehr bemühte sich meine Schwester, cool zu bleiben. Sie blieb immer wieder stehen und tat so als hätte sie nach zwei Schritten richtig Lust, eine kleine Pause einzulegen, während ich von einer Seite auf die andere eumelte.

Bewegung ist Leben

So grotesk dieser Schildkröten-Marathon auch gewirkt haben muss, meine ersten Schritte waren unternommen. Wer nach eineinhalb Jahren von Pantoffel und Pyjama auf Straßenschuhe wechselt, der ist offiziell wieder unterwegs. Dass Nachbarinnen und Kollegen beim Anblick meiner Performance die Straßenseite wechselten, war zwar nicht ermunternd, aber auch nicht von Bedeutung. Ich bewegte mich. Ich war auf meinem Weg zurück ins Leben.

Aktive und AktivistInnen Krankheitsbewältigung ist ein langer, aktiver Prozess. Ob sie als gelungen betrachtet werden kann, hängt entscheidend von der aktiven Beteiligung der Patienten ab. Die Kunst liegt darin, Menschen mit Schmerzkörpern zu motivieren, ihr Leben sprichwörtlich wieder auf die Beine zu stellen. Es gibt allerdings ein paar Menschen, die das bei mir geschafft haben und dafür danke ich ihnen aus ganzem Herzen und mit jeder einzelnen Muskelfaser. Wer diese Motivationskünstler kennen lernen möchte, geht bitte hier entlang zu Bewegende Begegnungen


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